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12.1.1953 Brief der Jugendstaatsanwälte

12.1.1953

Jugendstaatsanwalt des Stadt- und Landkreises Leipzig

Stellungnahme zu folgenden Heimen im Bezirk Leipzig: JWH [Jugendwerkhof] Elsnig, JWH [Jugendwerkhof] Heiterblick, JWH [Jugendwerkhof] Großstädteln (sämtlich Gruppe „A“) und Durchgangsheim Leipzig.

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In das Durchgangsheim werden aufgenommen: Kinder und Jugendliche, die aus anderen Heimen oder aus dem Elternhaus entwichen und wieder aufgegriffen worden sind, ferner Kinder und Jugendliche, die wegen krimineller Gefährdung, wegen Erziehungsschwierigkeiten oder auch nur wegen ungünstiger Familienverhältnisse in einem Heim untergebracht werden sollen und bis zu diesem Zeitpunkt nicht in ihrer bisherigen Wohnung verbleiben können. Darunter befinden sich auch Jugendliche, die durch ein Jugendgericht zu Heimerziehung verurteilt wurden. Leider vergehen bis zur Einweisung durch die zentrale Lenkungsstelle in Berlin oft Wochen, in einzelnen Fällen sogar Monate, da nicht genügend Plätze, vor allem für Hilfsschüler und bildungsfähige Schwachsinnige, vorhanden sind.

Die besonderen Probleme des Durchgangsheimes liegen also in dem Zusammentreffen der verschiedenen Altersgruppen, der Schwachsinnigen oder oppositionellen „Dauerausreißer“ mit leicht beeinflußbaren Neulingen und dem ständigen Wechsel des Kollektivs, in welchem keine auf lange Sicht geplante Erziehungsarbeit geleistet werden kann.

Es wäre also nötig, daß in einem Durchgangsheim genügend und besonders qualifizierte Erzieher tätig sind und daß innerhalb des Heimes Absonderungen vorgenommen werden können, daß ferner auch eine geschlossene Abteilung in diesem Heim oder immerhin in einer entsprechenden Entfernung vorhanden wäre, damit die Dauerausreißer

S. 5 nicht – wie es hier der Fall ist – schneller wieder aus dem Heim entwichen sind als die zurückführenden VP-{Volkspolizei] Angehörigen zu ihrer Dienststelle zurückgekehrt sind.

Bis zum Sommer 1953 war das Leipziger Durchgangsheim in einem verschlossenen Gebäude im Zentrum untergebracht. Darauf erfolgte seine Verlegung in das offene Gebäude mit Gartengrundstück in der Windorfstraße. Begründet wurde dies damit, daß auch in den anderen – allerdings kleineren – Städten der DDR (mit schwächerer Kriminalität!) die Durchgangsheime offen wären und dabei nicht mehr Ausreißer zu verzeichnen hätten als das damals geschlossene Leipziger Heim.

Mit dieser Begründung ist man aber an einem der Hauptprobleme des Durchgangsheimes vorbeigegangen. Was mit den „Dauerausreißern“ werden soll, ist nicht beachtet worden. Solange sie strafunmündig sind, werden sie bei jedem Aufgreifen erneut in ein Heim, das stets „offen“ ist, eingewiesen und laufen meist nach einigen Tagen wieder davon, ehe überhaupt ein erzieherischer Kontakt gefunden werden konnte. Und sobald sie 14 Jahre alt geworden sind und sich wieder einmal bei ihrem Ausreißen strafbar machen, wird dann eine Inhaftierung verlangt, die bei rechtzeitigen Vorbeugemaßnahmen vermieden werden könnte. Was die Dauerausreißer anrichten können, sei nur an einem einzigen von vielen Fällen erwähnt:

Ein 14 jähriger stahl im Laufe von 2 Monaten während seiner ständiges ständigen Ausreißens aus dem Durchgangsheim in Leipzig 22 Fahrräder und beging 35 Gartenlaubeneinbrüche. Es muß betont werden, daß auf diese Art öfter Kinder und Jugendliche eine kriminelle Entwicklung nehmen, die vermieden werden könnte, wenn sie beizeiten in einem geschlossenen Heim von besonders qualifizierten Erziehern unter Mitwirkung von Psychologen und Psychiatern erzogen werden würden. So wird später evtl. das Mehrfache des Betrages, der jetzt für ihre Erziehung nötig wäre, für ihre Isolierung von der Gesellschaft in Gefängnissen ausgegeben.

Aber auch die anderen Forderungen, die man sonst an ein Durchgangsheim stellen muß, erfüllt das Gebäude (eine frühere Villa) in der Windorfstraße nicht, da es verschachtelt und unübersichtlich gebaut ist und eine verhältnismäßig geringe Zahl von Einzelräumen aufweist. Der Speißesaal im Keller ist nicht groß genug, sodaß „in Schicht“ gegessen werden muß. Das einzig vorhandene Bad war z.Zt. unseres Besuchs kaputt. Die Wascheinrichtungen reichen zahlenmäßig nicht. Bei der Neubelegung wurde das Haus nicht innen vorgerichtet, (was nötig gewesen wäre), da die Mittel zu diesem Zeitpunkt nicht eingeplant waren. Die Heizung wurde erst im November in Stand gesetzt. Die Bibliothek enthält zwar gute fortschrittliche Werke (von Anna Seghers usw.), aber zu wenig Literatur für Kinder und schwächer begabte Jugendliche. Die Betreuung durch Erzieher wirkt nicht ausreichend.

Die Zahl der Ausreißer, die bei einer Kapazität von ca. 70 im 1. Monat nach der Verlegung über 100 betrug, ist inzwischen bedeutend gesunken. Dies ist zurückzuführen auf die Jahreszeit, aber auch auf die Einführung eines produktiven Arbeitseinsatzes in Brigaden.

Im ganzen gesehen ist die Frage des Durchgangsheims noch nicht befriedigend gelöst und müßte von Grund auf überprüft werden unter Beachtung der Anforderungen, die man an ein solches Heim in einer Großstadt stellt.

gez. F.

gez. M.

Jugendstaatsanwälte

Q.: Sächsisches Staatsarchiv, 22178 Spezialkinderheim „Hans Beimler“ Leipzig-Heiterblick, Nr. 141
Chronik des Durchgangsheimes Leipzig 1965-1982

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